„Inklusion darf nicht klein gedacht werden“
Mai 31, 2020
Ju ist zweifache Mutter und sitzt im Rollstuhl. Auf ihrem Blog Wheelymum berichtet sie aus ihrem Alltag – über Vorurteile, besondere Herausforderungen und das ganz normale Familien-Chaos, das sie mit allen anderen Eltern teilt. Hier steht uns Ju Rede und Antwort und erklärt, warum eine inklusive Welt für alle Menschen eine echte Bereicherung sein könnte.
Liebe Ju, erzählen Sie uns doch ein bisschen über sich!
Erst einmal möchte ich mich allen Leser*innen herzlich vorstellen: Ich bin die Ju, Mitte 30 und zweifache Mama von zwei wundervollen Jungs. Beide Kinder waren Frühchen und sind heute sechs beziehungsweise zwei Jahre alt. Zusammen mit dem Papa der Kinder leben wir auf einem Dorf in Baden-Württemberg.
In Ihrem Blog „Wheelymum“ berichten Sie über Ihren Alltag. Weil es immer noch zu wenige Menschen gibt, die sich Eltern mit Behinderung vorstellen können, wie Sie sagen.
Als ich mit meinem ersten Kind schwanger war, habe ich mir viele Fragen gestellt. Auf der Suche nach Antworten oder vielleicht sogar Lösungen und vor allen Dingen auch Austausch blieb ich ziemlich alleine. Es gab viele Vorurteile und auch es wurden viele Probleme gesehen, aber keine Lösungen. Ich bekam Sätze um die Ohren geworfen wie: Kinder sind ihr Privatvergnügen, sie können nicht davon ausgehen, dass es Hilfsmittel gibt, die sie bei der Versorgung unterstützen. Das verletzt und man fühlt sich völlig alleine.
Gleichzeitig war ich mir sicher, dass ich nicht alleine bin. Aus diesem Gedanken heraus entstand der Blog. Denn ich möchte genau das aufzeigen: Es gibt uns Eltern im Rollstuhl oder allgemein mit Behinderungen. Wir sind da. Bitte seht und denkt auch an uns! Natürlich können wir nicht alles mit unseren Kindern so machen, wie es andere Familien machen. Als ich eine Babygruppe besuchen wollte, war dies einfach nicht möglich, da die Räumlichkeiten nicht barrierefrei waren. Ins Schwimmbad kann ich nicht alleine mit meinen Kindern oder auch größere Radtouren stellen sich aktuell als schwierig heraus.
Jede Phase in der Entwicklung der Kinder hat ihre eigenen Herausforderungen und Grenzen. Auf dem Blog kann man das so ganz gut begleiten. Die richtige Kinderwagenauswahl war unheimlich schwierig. Danach gab es dann die nächsten Probleme, als das Kleinkind laufen wollte und ich meine freie Hand nicht mehr zum Schieben des Kinderwagens nutzen konnte. Wenn das Kind nun aber erschöpft war, hatte ich keine Möglichkeit, es irgendwie sinnvoll und bedürfnisorientiert wieder nach Hause zu bekommen. Denn zum Beispiel eine Art Fahrradsitz oder ähnliches an den Rollstuhl zu montieren, um es dann einfach und unkompliziert für uns alle mitzunehmen, ist gesetzlich verboten.
Man merkt, es sind die Kleinigkeiten. Darauf mache ich im Blog aufmerksam und versuche, gemeinsame Lösungen zu finden oder sich auszutauschen. Und daneben steht ganz viel Alltag. Genau wie bei anderen Familien: Aktuell Homeschooling. Oder auch sonst… Spielen, Essen, Begleiten, kreatives Arbeiten…Ein völlig normaler Alltag. Denn es ist wie es ist – der Rollstuhl gehört zu mir und zu uns als Familie. In einigen Situationen zeigt uns die Umgebung Grenzen. Im normalen Alltag ist er kaum wahrnehmbar, obwohl er da ist.
Für Ihre Kinder selbst ist die Behinderung vermutlich überhaupt kein Thema, oder?
Genau. In den ersten Jahren sowieso nicht. Natürlich gibt es Tage, an denen es mir richtig schlecht geht und es gab auch Tage, an denen ich das Bett nicht verlassen konnte. Das wurde dann auf kindgerechte Art und Weise kommuniziert und wir haben Alternativen gefunden. Ruhepausen für mich, kuscheln, spielen, lesen im Bett und vielleicht noch eine Massage. Die Behinderung an sich ist hier kaum ein Thema. Der Rollstuhl ist sichtbar und wird eher noch als zusätzliches Familienmitglied angesehen. Die Kinder klettern auf mich drauf und können so manchmal mehr sehen, oder er wird als Versteck oder auch als Höhle genutzt.
Das Thema an sich kam bei meinem großen Sohn zum ersten Mal im Kindergarten auf, als die anderen Kinder völlig fasziniert den Joystick angeschaut haben und die Technik ausprobieren wollten. Hier gab es dann ein Gespräch darüber und damit war es dann auch wieder gut. Fragen können sie jederzeit oder wenn man spürt, es beschäftigt sie etwas, können wir das Gespräch natürlich aufnehmen. Aber es ist hier kein ständiges Thema.
„Wir Eltern mit Behinderung sind immer noch sehr unsichtbar“
Als Ihr Neurologe von der Schwangerschaft erfuhr, fragte er mehrmals, ob Sie denn wirklich ein Kind bekommen wollten. Das muss schlimm gewesen sein, die eigenen Fähigkeiten so abgesprochen zu bekommen. Aber es ist vermutlich leider kein Einzelfall?
Leider nicht. Die Situation mit dem Neurologen war mehr als unschön. Wie schon beschrieben, hatte ich eine ähnliche Situation mit der Krankenkasse und auch mit dem Sanitätshaus. Ich weiß mittlerweile, dass diese Menschen hier an ihre persönlichen und auch fachlichen Grenzen stoßen und einem dieses widerspiegeln, in dem sie den Menschen im Rollstuhl die Fähigkeiten absprechen. Getreu dem Motto: Was ich nicht kenne, gibt es auch nicht.
Diese Situationen passieren im Kleinen und im Großen. Im Kindergarten bat mich eine andere Mama einmal, dass ich meinen Sohn nicht mehr in den Kindergarten bringen soll, da ihr Kind Angst vor mir habe. Spoiler: Das Kind hatte keine Angst vor mir, aber die Mama kam nicht damit klar, dass ich im Rollstuhl ein Kind habe und ihr Kind „so etwas“ sehen muss. Das ist natürlich völliger Irrsinn und eine Diskriminierung der besonderen Art.
Neben einer bewussten Absprache der Fähigkeiten gibt es aber auch den Fall, dass wir Eltern mit Behinderungen im System an sich einfach nicht vorkommen. Ich selbst habe das auch in der Kinderklinik erleben müssen. Mein neugeborenes Frühchen konnte ich nur kurz besuchen, da der E – Rolli nicht in das Zimmer gepasst hat. Und das in einer Kinderklinik an einer Uniklinik! Oder beim nächsten Krankenhausaufenthalt, in dem man mir sagte, ich könne nicht mit meinem Säugling in ein Zimmer – wenn eine Begleitperson mitkommt, müsse es der Papa sein. Es ist unheimlich anstrengend, gegen solche Windmühlen zu kämpfen. Es lohnt sich aber und gleichzeitig zeigt es, wie unsichtbar wir immer noch sind.
Es gibt allerdings auch den umgekehrten Fall: Wenn es andere Menschen zu gut meinen, einem die eigene Unabhängigkeit absprechen. Haben Sie auch solche Situationen erlebt? Und welche Reaktion wünschen Sie sich von Ihren Mitmenschen?
Ja, solche Situationen erlebe ich immer wieder. Nur ein Beispiel: Ich bin mit meinem 3-jährigen Sohn auf dem Spielplatz. Er spielt in einem Bereich, den ich nicht einsehen kann. Wir haben aber die klare Absprache, dass er laut ruft, wenn es ein Problem gibt oder er eben wieder heraus kommen soll, wenn etwas wäre. So spielt er vor sich hin. Ich bin in Hörweite, als ich ihn schreien höre. In diesem Moment kommt bereits eine Mutter mit meinem Sohn im Arm, der wie wild strampelt. Sie übergibt ihn mir mit den Worten: „Vielleicht sollten sie besser auf ihr Kind aufpassen, der hat da hinten ganz alleine gespielt, das ist ja verantwortungslos.“ Das war einfach total an unserer Lebenswelt vorbei. Und die besagte Mutter empfand dies noch als Hilfe und Unterstützung. Also, gut gemeint ist leider nicht immer gut gemacht.
Wenn andere sich trauen, zu fragen, ob sie etwas helfen oder unterstützen können, ist das wunderbar. Aber diese Frage ist notwendig. Wer einfach so etwas tut, spricht uns damit Selbstbestimmung und auch Selbstwert ab. Wenn ich persönlich Unterstützung brauche, scheue ich mich auch nicht, einfach selbst aktiv nachzufragen. Wenn andere aber helfen möchten, dann ist es so wichtig, dass man fragt ob man etwas helfen kann oder diese Hilfe aktiv anbietet. Wird sie angenommen, wunderbar. Wird sie abgelehnt, ist das aber nichts gegen die Mitmenschen sondern einfach der Tatsache geschuldet, dass man es selbst und unabhängig kann.
„Endlich in einer Welt ankommen, in der an alle gedacht wird“
Als wie „inklusiv“ empfinden Sie den Alltag im öffentlichen Raum?
Ich denke, diese Frage kommt sehr stark auf das Umfeld an. Wir leben auf einem Dorf, hier gibt es unsagbar viele Barrieren. Wenn ich in der Großstadt oder zum Beispiel in Berlin bin, fühle ich mich unheimlich frei und alles als sehr barrierefrei. Wenn ich mich mit Menschen mit Behinderungen unterhalte, die dort leben, sehen diese das anders.
Ich denke, inklusiv oder Inklusion im Allgemeinen darf nicht klein gedacht werden. Wir müssen endlich in einer Welt ankommen, in der es selbstverständlich ist, dass an alle gedacht wird. An den Rollstuhlfahrer, die Menschen mit Hörbehinderung und so weiter. Denn wir alle können davon profitieren.
Ich wünsche mir wirklich, dass es so sein wird, dass man sich rechtfertigen muss, wenn Dinge, Einrichtungen usw. nicht barrierefrei sind. Und nicht dass es ein Merkmal ist, mit dem man sich von den anderen abhebt. Dass inklusive Schulen selbstverständlich sind. Dazu sollte es endlich genügend finanzielle Mittel und Personalkräfte geben. Wie bereichernd wäre das für uns alle, wenn wir uns alle immer wieder auf Augenhöhe begegnen und so voneinander lernen könnten!
Haben Sie zusätzliche Unterstützung im Alltag?
Es gibt die Möglichkeit einer Elternassistenz. Das bedeutet, dass eine Person in die Familien kommt und Hilfestellung gibt oder Dinge übernimmt, die der Elternteil mit Behinderung nicht selbst tun kann. Dazu muss man einen Antrag stellen und die Stunden angeben die man Unterstützung braucht. Bei einigen Familien läuft das sehr gut, bei anderen schlecht und bei wieder anderen gibt es zwar die Genehmigung, aber kein Personal dafür.
Das ist alles etwas verzwickt. Wir als Familie haben solch eine Unterstützung nicht. Was ich mir aber wirklich wünschen würde, wären Hilfsmittel die uns Eltern unterstützen. Auch, um die Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu bewahren. Noch einmal das Beispiel Fahrradtour: Der Sechsjährige saust mit deinem Fahrrad durch die Gegend. Da kommt mein auf acht km/h gedrosselter Rollstuhl nicht hinterher. Da würde mir ein Handbike helfen. Oder ein Fahrzeug, welches einfach schneller als acht km/h fahren kann. Das gibt es, zählt dann aber nicht mehr als Hilfsmittel, wenn man einen E – Rollstuhl hat. Damit ist es verboten, auf dem Bürgersteig zu fahren. Auf dem Gehweg muss ich mit einem Kleinkind aber unbedingt auch fahren können.
Kurzum: es sind oft die strikten Vorgaben, die Handlungsspielräume unmöglich machen. Ich finde, das sollte dringend flexibler werden. Jede Situation ist einzigartig, jeder Mensch ist anders. Darauf sollte man auch in großen Systemen schauen, dass hier individuelle und vielfältige Lösungen gefunden werden können und nicht nur nach Schema F gearbeitet wird. Wir könnten viel weiter sein.
Gibt es sonst noch etwas, dass Sie anderen Müttern und Vätern mit auf den Weg geben möchten?
Leben kann anstrengend sein. Ganz oft ist es das auch. Das Leben kann aber auch ganz wundervoll sein und ganz oft ist es das auch. Ich denke hier immer gerne an das Bild vom Regenbogen. Nur mit Sonnenschein allein kann man keinen Regenbogen sehen. So ist das auch bei uns im Leben oder im Leben als Eltern. Egal ob Behinderung oder chronische Krankheit oder nicht, Eltern zu sein bedeutet eine große Verantwortung und viele Jahre, bis Kinder relativ selbstständig sind. Sie brauchen Liebe, Zuwendung und Hilfestellung. Ich wünsche jedem, dass er ein gutes Umfeld hat, wie Eltern, Geschwister und Freunde. Bei Kinderwunsch oder Planung:Nutzt Beratungsstellen und lasst euch nicht entmutigen! Etwas Planung und Beratung kann nicht schaden, aber das wichtigste ist, dass ihr wisst, dass ihr für eure Kinder die perfekten Eltern seid. Sich Hilfe und Unterstützung zu holen ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke.
Vielen Dank für das Interview!
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